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Softwareentwickler benutzen für gewöhnlich eine Software namens Git, um mit anderen Programmierern an dem neuesten Status ihrer Projekte zusammenzuarbeiten. Git funktioniert so, dass sich jeder Mitarbeiter eine komplette Kopie des Projektes aus dem Zentralverzeichnis auf den Arbeitsrechner lädt. Hat er seine Kopie entsprechend verändert, speist er sie wieder zurück zur Zentrale, die dafür sorgt, dass die geänderte Version mit der Stammversion verschmilzt. Das nennt man „Merge“.
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Nun kann man das Zurückspielen auf das Zentralverzeichnis auch einfach sein lassen. Stattdessen kann man die editierte Version als neue Stammversion verfügbar machen und mit anderen Entwicklern daran weiterarbeiten. Dann gibt es zwei Versionen derselben Software, die sich in völlig unterschiedliche Richtungen weiterentwickeln können. Das nennt man „Fork“ – eine Gabelung.
Die Idee des Forks begeisterte mich früh. Wer einen Fork macht, braucht sich nicht mehr einigen. Der Fork ist das Ende der Politik, des Streits und des faulen Kompromisses. Der Fork ist das Ende der Gefangenschaft in „der Gruppe“.
Unfreiheit sozialer Beziehungen
Soziale Beziehungen sind, trotz aller sozialer Mobilität der modernen Gesellschaft, auch heute noch etwas sehr Unfreies. Vom Kindergarten über die Schule, den Verein bis zum Unternehmen durchlaufen wir ständig Organisationsformen, die uns fremdbestimmt gruppieren, sortieren und somit entindividualisieren. Von der Hasen-und-Igel-Gruppe bis zur Staatsbürgerschaft ist die Gesellschaft als Gruppenspiel organisiert und unsere Mitspieler dürfen wir uns nur selten aussuchen. Und dann heißt es: „Finde dich ein, ordne dich unter, sei ein Teil von uns.“
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Der Fork macht Schluss mit der Notwendigkeit von Gruppen. Aus dem Unternehmen wird das Projekt und das Projekt kann geforkt werden. So macht man das im Netz. Ein Anwendungsfall, der mir sofort in den Sinn kam, war Wikipedia. Endlose Kabbeleien um Fakten und Interpretationen von Ereignissen liegen ihr zugrunde. Die sogenannten Edit Wars ziehen viel Energie der Kontributoren aus dem Projekt, stoßen regelmäßig Neuankömmlinge ab und verwässern alle Artikel in einem tranigen Kompromiss.
2009 schlug ich vor, die Wikipedia auf Git-Basis umzustellen.1
Ihr glaubt, der Dreißigjährige Krieg ist ganz anders verlaufen? Macht doch einen Fork! Du glaubst, Globuli helfen gegen Depressionen? Mach doch einen Fork! Warum einigen, wenn jeder seine eigene Wahrheit haben kann?
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Acht Jahre später ist mein Traum wahr geworden. Und ich bereue ihn. Zwar wurde die Wikipedia nie auf Git-Basis umgestellt, aber heute gibt es die Conservapedia, ein Wikipedia-Fork, mit unterschiedlichen Ansichten zu Abtreibung, Waffengesetzen und Klimawandel. Oder die Metapedia, die Wikipedia für „White Supremacists“, in der der Holocaust nur ein Ereignis in der politisch korrekten Geschichtsschreibung ist. Und es gibt Infogalactic, der Wikipedia-Klon der Alt-Right, in der die neue rechte Szene in den USA all ihre „alternativen Fakten“ festhält.
Dafür brauchte es kein Git, das Internet selbst macht es möglich. Die allgemein leichte Kopierbarkeit auch großer Datenmengen, kostenlose Software und preisgünstiges Hosting reichten aus, um parallele Wahrheitsinstitutionen zu etablieren. Am Ende braucht es kein Git, sondern nur sehr günstige Transaktionskosten, um die Wahrheit zu forken.
Kontrollverlust als positive Vision
Wir feierten damals den Tod des Gatekeepers. Niemand kann mehr bestimmen, was öffentlich ist und was nicht. Das Tor ist nun offen, der Mittelsmann herausgeschnitten. Das – vor allem das – versuchte ich, mit dem Begriff „Kontrollverlust“ zu fassen – als positive Vision. Durch das Internet brauchen wir keine Vermittler mehr, wir können nun alle direkt miteinander sprechen.
Doch was wir als Demokratisierung der Öffentlichkeit feierten, entpuppte sich in Wahrheit als Deregulierung des Wahrheitsmarktes. Dieser Erdrutsch der Transaktionskosten hat ein Umfeld geschaffen, in dem sich die Wahrheitsproduktion in einer ungekannten Freiheit entfalten konnte. Eine Umwelt, in der an jeder Redaktion und allen Safe-Guards vorbei Wirklichkeiten erschaffen und verbreitet werden konnten, die auf das Verbreitungssystem, statt auf den Wahrheitsgehalt optimiert sind. Die Ergebnisse zeigen im Einzelnen genau dieselben Auswirkungen, die wir von jeder Marktderegulierung kennen: Kostendruck bei den Marktführern, das Auftauchen von neuen Wettbewerbern und schließlich die Ausnutzung von Lücken im System durch “bad Actors”.
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Seitdem gibt es kaum eine alternative Wahrheit, die im Internet nicht sein Publikum gefunden hat. Von den Flat-Earthern, den Chemtrailphobikern, allen Arten von Verschwörungstheoretikern, den Reichsbürgern bis hin zu den radikalisierten Anhängern von Pegida oder den Subkulturen wie der Alt-Right in den USA. In dieser zerklüfteten und deregulierten Medienumwelt generiert jede Wahrheit ihren Echoraum, um ihre Narrative zu züchten.
In den USA hat sich neben den rechten Wikipedien die gesamte Medienlandschaft geforkt. Zu jedem Thema gibt es heute eine Variante von Rechts. Breitbart, Fox News, Daily Caller, New York Post – all diese Newssites geben gar nicht mehr vor, überparteilich zu berichten, sondern definieren sich als Opposition zum als zu links empfundenen Mainstream.
Konfrontation statt Kompromiss
Der Fork ist nicht mehr an einem Ausgleich, an Pluralität oder an Kompromissen interessiert. Er sucht die Konfrontation, Provokation und die totale Verdammung des Gegners. Es sind tribale Institutionen, die nur noch in Begriffen von „die“ gegen „wir“ operieren. Die Leute, die ihre Websites besuchen, sind keine einfachen Leser mehr, sondern Bekehrte, die mit vollem Elan und stetiger Wut nur das Schlechteste über die andere Seite denkt. Die andere Seite: das sind „die Eliten“, „die Politiker“, „die Mainstreampresse“, die “Linken”.
David Roberts hat dieses Phänomen treffend als „Tribale Epistemologie“ bezeichnet und definiert es folgendermaßen:
Eine Information wird nicht anhand von Kriterien wie wissenschaftliche Standards der Beweisführung oder gar der Anschlussfähigkeit an das allgemeine Weltverständnis beurteilt, sondern einzig und allein danach, ob sie den Werten und Zielen des Stammes entspricht. ‘Gut für unsere Seite’ und ‘wahr’ beginnen eins zu werden.
Das Phänomen ist tatsächlich psychologisch gut untersucht und beschränkt sich nicht auf die USA. Auch in Deutschland erfahren wir gerade eine ähnliche Tribalisierung des öffentlichen Diskurses.2
Vielleicht ist es ganz einfach so: Es gibt keine Einigung ohne Zwang. Ohne knappe Ressourcen, ohne Verengung auf einen Gruppenwillen, ohne ein Machtwort: “Einigt euch!”, ist kein Kompromiss möglich und damit kein gesellschaftlicher Frieden.
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Seien wir ehrlich: niemand mag Kompromisse, niemand mag es, Zugeständnisse zu machen und jeder weiß es sowieso immer besser als alle anderen. Um eine Gesellschaft zu sein, darf es kein Entrinnen geben, keine Möglichkeit des Forkens.
Doch heute ist in Sachen Information nur noch eines knapp: die Knappheit. Ohne Knappheit wird es keinen Zwang und ohne Zwang keine Einigung geben. Wir merken gerade: eine zwanglose Gesellschaft ist keine. Sie zerfällt in verfeindete Stämme.