Die Befreiung vom flachen Fernsehen

Ein Interview über 360°, Virtual Reality und die Freiheiten, die sie Produzenten wie Rezipienten geben.

©iStock.com/FrankRamspott

 

In den USA sollen jetzt Langzeithäftlinge mithilfe von Virtual Reality auf die Freiheit vorbereitet werden. Kann das funktionieren?

 

Stefan Domke: Das finde ich vom Ansatz her genial. In Zeiten wie diesen sind die technischen Weiterentwicklungen ja extrem. Da reicht es ja, ein paar Jahre im Gefängnis gesessen zu haben, um ein Problem zu bekommen, sich wieder zu integrieren. Und zwar nicht in die Gesellschaft, sondern, ganz banal gesagt, in die technischen Abläufe. Jemand, der 20 Jahre eingesessen hat, weiß vielleicht nicht, wie ein Smartphone zu nutzen ist, oder wie er einen Touchscreen bedienen muss. Häftlingen anzubieten, sich mit solchen Sachen in Virtual Reality auseinanderzusetzen, noch bevor sie in die Freiheit kommen, klingt total banal, ist aber kein doofer Gedanke.

David Ohrndorf: Ich finde es ein bisschen bizarr, weil ich glaube, dass man es nicht so genau nachbauen kann. Wie viel Geld und Entwicklungsarbeit wird in so eine Anwendung gesteckt, dass sie wirklich ganz nah ist?

Stefan Domke: Es ist sicher sehr teuer, das erstmal zu entwickeln. Aber ich glaube, es ist immer noch günstiger, als die Leute, die dann nach draußen kommen, nicht so zu integrieren, so dass sie über kurz oder lang wieder im Knast landen.

 

Genau, es geht um die Wiedereingliederung und die Minimierung der Rückfallquote. Zum einen die bereits genannten technischen Aspekte. Die könnte man aber simulieren, indem man sie ins Gefängnis holt oder indem man betreute Ausgänge macht. Es geht aber auch um Konfliktsituationen: Außerhalb des Gefängnisses sind die Ex-Häftlinge mit ganz anderen Situationen konfrontiert als innerhalb des Gefängnisses. Und innerhalb des Gefängnisses werden Konflikte auf eine sehr andere Art gelöst, als sie außerhalb gelöst werden sollten. Man versucht also in VR auch psychisch Einfluss zu nehmen auf die Leute, so dass sie ihre Reaktionen unter Kontrolle haben.

 

Stefan Domke: Das wäre natürlich auch ohne VR denkbar, zum Beispiel mit einem Rollenspiel im Gefängnis. Aber dabei fehlt dann natürlich das, was die Immersion bei VR ausmacht, nämlich dass in der Situation nicht nur der Dialog stattfindet, mit dem man lernen muss umzugehen, sondern äußere Einflüsse wie Geräusche, vorbeifahrende Autos – eine klassische alltägliche Situation, wie wir das gewohnt sind. Ich finde das total überzeugend und glaube, dass das Sinn macht.

 

Ist denn die Situation, in der man sich in VR befindet, eine andere als zum Beispiel in einem Rollenspiel mit realen Personen um einen herum? Es ist ja beides simuliert.

 

David Ohrndorf: Wenn du ein psychologen- oder therapeutenmäßiges Setting an einem Tisch hast, dann ist es bei der zweiten inszenierten Situation schon nicht mehr realitätsnah, weil die Personen um dich herum Aufträge bekommen. In der VR-Anwendung können sie viel überzeugender und wirklichkeitsnäher sein.

Stefan Domke: Es ist spontaner, dann passiert auch was Überraschenderes. Eine alltägliche Situation zum Beispiel: Jemand spricht dich an, möchte eine Zigarette von dir. In VR würdest du das so inszenieren, dass das Ganze nicht frontal vor Dir passiert, sondern überraschend von hinten kommt. Das kannst du in einem Rollenspiel in einem Gefängnisraum nur sehr begrenzt und schlecht inszenieren. So etwas funktioniert in der immersiven Umgebung besser.

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David Ohrndorf: Man kann aber auch ganz einfach vom Gefängnis wegkommen, beim Thema VR und Freiheit. Es ist einfach so, dass du so viel möglich machst mit solchen VR-Experiences. Zum Beispiel dass jemand nicht erst nach Köln reisen muss, um sich den Dom anzugucken. Wir lachen darüber, weil wir bloß ein KVB-Ticket brauchen. Aber einem gläubigen Katholiken aus Südamerika – für den der Dom vielleicht besonders spannend ist – zu ermöglichen, den Dom in einer VR-Brille anzusehen und ihn zu erleben, als ob er da wäre, da macht VR auch Sinn.

Stefan Domke: Die Freiheit für den Nutzer ist, sich an jeden Ort, der denkbar ist, im Idealfall so hineinzuversetzen, als wäre er vor Ort. Wenn man von optimaler Technik ausgeht, kann ich virtuell reisen, mich virtuell in Situationen begeben, in die ich aus verschiedenen Gründen real niemals käme. Entweder, weil die Orte nicht zugänglich sind, weil ich zu alt bin, weil mir das Geld fehlt oder weil ich es nicht darf.

Wenn sich das mal so weit durchsetzt, dass es mit jedem bezahlbaren Gerät möglich ist, 360° und VR zu erleben – wie wirkt sich das aus auf Länder wie Nordkorea zum Beispiel? Sie sind im Augenblick schon in einer Situation, dass sie vielleicht, obwohl es verboten ist, auf einem Fernseher oder einem normalen Smartphone sehen können, was es außerhalb des Landes gibt. Aber das Bedürfnis, es selber zu erleben, wird vielleicht nicht so stark geweckt wie in einer sehr immersiven Situation.

David Ohrndorf: Das funktioniert in beide Richtungen: Erstens in Nordkorea zu zeigen, wie alles drumherum ist, und gleichzeitig aber auch hier Nordkorea zu sehen. Ich denke dabei immer an das erste richtig gute 360°-Angebot, das ich gesehen habe: „Polar Sea“, das auch den Grimme Online Award bekommen hat. Das ist so eindrucksvoll. Da konnte ich wirklich in die Arktis reisen.

 

Das eine ist die räumliche Änderung. Könnte sich aber auch die Einstellung ändern, wenn man in einer VR-Umgebung in den Körper eines anderen schlüpft?

 

Stefan Domke: So, wie du es gerade gefragt hast, klingt es fast danach, einen guten virtuellen Charakter auf jemanden zu übertragen, der in diesen Charakter schlüpft. Richtig?

 

Ja, man könnte zum Beispiel einen Nazi in den Körper eines Schwarzen stecken und hoffen, dass er dann eine andere Einstellung dazu entwickelt.

 

Stefan Domke: Ich hoffe nicht, dass das so ist. Ich weiß nicht, ob das so funktionieren würde, dazu fehlen mir die wissenschaftlichen Kenntnisse. Aber das würde ja im Umkehrschluss bedeuten, dass es auch relativ simpel möglich wäre, jemanden zum Nazi umzupolen. Oder noch niedrigschwelliger: Das greift ja fast wieder die Debatte um Egoshooter auf – das würde ja heißen, dass tatsächlich jemand, der in VR ein Egoshooter-Spiel spielt, Charakterzüge aus dem Spiel übernimmt, wenn es möglichst realitätsnah inszeniert und umgesetzt wurde. Ich glaube nicht, dass das möglich ist und ich hoffe auch nicht, dass das möglich ist.

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David Ohrndorf: Aber wenn du auf dieses Nazi-Beispiel zurückkommst: Es ist doch das gleiche, was Eltern dir sagen, wenn du deine Geschwister beleidigst. Dann kommt doch von der Mutter immer: Aber überleg mal, wie du das fändest, wenn er das jetzt zu dir gesagt hätte? Ich glaube, sich in die Position des anderen reinzuversetzen, ist schon hilfreich, um auch mehr Mitgefühl mit dem anderen zu haben. Und ich glaube auch, dass das grundsätzlich mit VR funktioniert.

Da ist wahrscheinlich der Zeitungsartikel über das Leben in Syrien – selbst wenn es eine tolle Reportage ist – sehr viel weniger immersiv, weil es schwieriger für einen Autor ist, bestimmte Bilder beim Leser zu erzeugen. Das ist ein ganz klassisches Problem für Reportagenschreiber – das Wort ist vielleicht bei jemand anderem ganz anders besetzt als bei dir als Autor. Und dann entsteht nicht das exakte Bild, was der Reporter so beschreiben wollte. Wenn es aber eine gute VR-Experience ist, die die Wirklichkeit mehr oder weniger eins zu eins abbildet, musst du nichts mehr beschreiben, sondern kannst es direkt sehen und dir dein eigenes Bild machen. Du bist dann viel näher dran an der Situation. Ich glaube ja, da funktioniert das viel besser mit der Empathie.

Stefan Domke: An der Stelle will ich dir gar nicht widersprechen, aber trotzdem sehe ich da einen Unterschied: Um Empathie zu erzeugen, ist VR, glaube ich, perfekt. Da gibt es im Moment nichts Perfekteres. Beim Beispiel Nazi umpolen bleibend: Ich glaube, wenn es darum geht, für neonazistische Gedanken empfängliche Leute wieder auf den richtigen Weg zu bringen, kann VR unterstützend helfen, eingebettet in etwas didaktisch größer Angelegtes. Aber es würde nicht reichen, einem Nazi einmal die Woche für zwei Stunden eine VR-Brille aufzusetzen, damit er mitbekommt, wie scheiße sein Verhalten ist. Es kann aber ein sehr wichtiger Baustein in einem Gesamtkontext sein.

 

Ihr schickt ja nicht einfach VR- und 360-Grad-Erlebnisse in die Welt, sondern ihr seid ja auch oft dabei, wenn Leute das zum ersten Mal oder auch wiederholt erleben. Wie sind die Reaktionen?

 

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David Ohrndorf: Wenn sie es zum ersten Mal nutzen, dann ist grundsätzlich dieser Wow-Effekt da, dass man sich so in eine andere Welt reinversetzen kann und dass das Erlebnis so wahnsinnig stark ist. Es geht ganz viel ums Erleben in solchen VR-Anwendungen und die Leute sind zu 95 Prozent und mehr begeistert. Man kann nur manchmal nicht trennen: Sind sie begeistert von den Inhalten, die sie gesehen haben oder sind sie von der Technik prinzipiell begeistert. Gerade bei Erstnutzern muss man da Abstriche machen. Ich kenne das auch selber aus meinem eigenen Erleben, dass ich jetzt schon deutlich kritischer auf die Inhalte gucke als bei den ersten Sachen. Da dachte ich einfach: Wow, cool, hier kann man sich umgucken. Ich glaube, das würde mich jetzt nicht mehr so flashen, wie es bei der Erstbenutzung war.

Stefan Domke: Was mich zum Beispiel bei normalen Dokus stört: Es müssen Protagonisten zu Wort kommen. Gleichzeitig lässt aber mein Interesse relativ schnell nach, den Protagonisten die ganze Zeit anzugucken. Das wird dann meist darüber gelöst, dass der Kameramann, während der Protagonist redet, verschiedene Einstellungen anbietet. In einer VR-Doku besteht die gleiche Situation aus einem einzigen, nicht geschnittenen Bild über zwei, drei Minuten, der Protagonist redet durch und ich kann den Blick kreisen lassen und habe das Gefühl, ich bin selber in dieser Umgebung. So banal es auch ist, das löst etwas ganz anderes in mir aus. Ich kann mir selber einen Eindruck bilden, ohne dass ich gegängelt werde durch einen Regisseur oder einen Kameramann.

David Ohrndorf: Der nimmt dir sonst immer die Freiheit bei flachem Fernsehen?

Stefan Domke: Der entscheidet auf jeden Fall, was ich zu sehen kriege und was nicht.

 

Das ist die Freiheit des Rezipienten, die dann unter Umständen noch weiter geht – mich im Raum zu bewegen zum Beispiel. Kann es nicht auch den Punkt geben, wo der Rezipient von dieser Freiheit überfordert ist?

 

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David Ohrndorf: Das gibt es jetzt schon. Wir merken das manchmal, wenn wir Leuten Sachen zeigen und sie sehr zögerlich dabei sind und diese Möglichkeit, die sich ihnen bietet, sich umzugucken oder weiterzugehen, gar nicht nutzen. Wir haben uns mal als Trick ausgedacht, wenn Leute sich den Dom in der Photogrammetrie das erste Mal ansehen mit Controllern in der Hand, einmal von vorne an dem Controller zu ziehen, damit sie einen Schritt nach vorne machen und merken, dass sie sich in diesem Raum auch wirklich bewegen können und das als Möglichkeit wahrnehmen.

Gerade, wenn du aus einer Welt kommst, wo du Medien immer als lineares Angebot rezipiert hast, wirst du Schwierigkeiten haben, Auswahlmöglichkeiten wahrzunehmen oder zu überlegen, was ist der richtige Weg, sich das hier anzusehen? Was ist die Reihenfolge? Wahrscheinlich gibt es bei vielen Angeboten eigentlich gar keine Reihenfolge, sondern du musst einfach den Spieltrieb rauslassen. Ich denke, es ist wichtig, selbst die Welt erleben zu wollen und Sachen auszuprobieren. Aber man muss sich erstmal darauf einlassen, dass man diese Möglichkeit hat.


Stefan Domke:
Und dieses Sich-Erstmal-Drauf-Einlassen, dieses „erstmal“, braucht Jahre. Es gibt im WDR und in der ARD seit Jahren Mediatheken, damit die Leute die Möglichkeit haben, on demand zu gucken. Das haben sie lange Zeit nicht getan, vielleicht, weil auch die Zugänge nicht so waren, weil es nicht so geschmeidig ablief. Aber was dieses nicht-lineare Konsumieren von Bewegtbildinhalten angeht, hat sich in den vergangenen zwei, drei Jahren auch durch Netflix etc. viel getan. So wird es in fünf Jahren, vielleicht erst in zehn Jahren, so sein, dass sich viel mehr Leute an VR und 360° gewöhnt haben, mit den viel freieren Möglichkeiten sich eine Geschichte selber zu erarbeiten, zu erleben. Und bis dahin wird es unsere Aufgabe sein, diese Freiheit des Betrachters so facettenreich anzubieten, dass beide Hauptgruppen befriedigt sind. Im Grunde genommen kann man es mit Pageflow vergleichen: Es bietet die Möglichkeit, höchst unterschiedliche Wege zu gehen auf dem Weg, die Story am Ende komplett angeguckt zu haben. Man kann sich individuell durch die Seite oder durch Seitenstränge durchklicken, oder der Story von A bis Z ganz klassisch linear folgen, indem man scrollt und scrollt und scrollt und am Ende alle Seiten durch hat. So etwas muss es noch viel stärker bei 360° und VR geben, damit man diejenigen, die ansonsten gar nicht das nutzen, was dieses Medium bietet, mehr an die Hand nimmt und den Weg zeigt.

David Ohrndorf: Ich finde, der Hinweis auf Pageflow ist total passend. Unabhängig davon, ob man der Geschichte von der ersten bis zur letzten Seite folgt, ist auch schon das selber blättern müssen eine ganz andere Rezeptionssituation, als wenn man sich einfach vor eine Leinwand oder vors Radio setzt und alles, was ins Ohr und ins Auge reingeht, der Reihe nach verarbeitet. Du musst immer aktiv an der Geschichte teilnehmen, sonst passiert da nichts.

Stefan Domke: Das finde ich gar nicht so ungewöhnlich. Beim Theater gibt es ja auch zwei Varianten, das eine ist deutlich populärer und etablierter, nämlich du sitzt im Publikum und guckst auf eine Bühne. Und dann gibt es Sonderprojekte. Dieses dänische Theaterkollektiv, „Signa“, das hat mich die zwei, drei Male, die ich es erlebt habe, total geflasht. Meistens haben sie ein komplettes Haus oder eine Halle bespielt und überall passiert was. Und du selber entscheidest, was du dir ansiehst und wo du hingehst. Beides ist durchaus unter dem Oberbegriff Freiheit zu fassen. Der eine hat die Freiheit, den linearen Weg zu gehen, und der andere nutzt die Freiheit, wie zum Beispiel auch in VR, ganz andere Optionen zu haben.

 

Das ist die Freiheit der Rezipienten. Ich bekomme aber oft mit, dass sich Nutzer von VR und 360° schon eingeschränkt fühlen durch das technische Gerät, das sie bedienen müssen. Wie seht ihr das?

 

Stefan Domke: Das ist die Hölle!

David Ohrndorf: Das ist schrecklich! Ich bin Brillenträger, das ist noch mal ein bisschen blöder für mich. Ich habe jetzt extra schon eine kleinere Brille, als ich früher hatte, damit die einfacher drunter passt. Es kommen auch immer mal so Ideen, wie: „Man muss mal einen Spielfilm machen in VR.“ Aber du wirst nicht 90 Minuten am Stück eine VR-Brille aufsetzen und dir das angucken wollen – zumindest nicht mit der Technik, die es im Moment gibt. Es gibt so viele Stellen, wo es hakelig ist, man muss im Moment schon einen sehr großen Bastelwillen mitbringen, um sich das wirklich dann auch zu Hause angucken zu können.

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Stefan Domke: Das ist wirklich die Pest. Noch dazu, weil so viele Systeme, die nicht miteinander kompatibel sind, nebeneinander existieren. Das kann nicht funktionieren, weil es für uns als Macher auch das Problem ist, dass wir uns schon aus Kostengründen auf drei oder vier verschiedene, aus unserer subjektiven Sicht wichtige, Plattformen beschränken müssen. Andere Sachen fallen hinten runter. Das ist echt kein Dauerzustand. Aber gleichzeitig ist genau das auch eher ein Argument dafür, dass es sich durchsetzen wird. Es ist seit zwei, drei Jahren schon so, es nervt alle Beteiligten, es hält aber zum Beispiel Investoren überhaupt nicht davon ab, da weiter Geld rein zu pumpen. Und alles, was man liest, deutet auch darauf hin, dass da durchaus eine spürbare Verbesserung zu erwarten ist in den nächsten Jahren.

Aber es ist auch Jammern auf hohem Niveau. Vor fünf Jahren hätte niemand in der Masse für möglich gehalten, sich etwas auf einem qualitativ so hohen Betrachtungsniveau in einer solch immersiven Umgebung anschauen zu können. Und jetzt sind es zwei bis drei Jahre VR und 360°, in denen es schon eine solch erkennbare Fortentwicklung gegeben hat. Zusätzlich noch mit der Perspektive, dass auch in den nächsten Jahren wieder extrem viel passieren wird.

 

Jetzt würde ich gerne umschwenken auf euch als Produzenten. Was macht in euren Augen eine gute VR- oder 360°-Produktion aus?

 

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David Ohrndorf: Woran man es messen kann, ist die Immersion. Im Endeffekt geht es da um das gleiche wie bei allen Sachen: Zieht mich das rein oder zieht es mich nicht rein? Und es sollte mich reinziehen. Was ich schade finde, ist, wenn ich so Beispiele sehe, wo jemand eine coole Idee hatte und die aber nicht so begeisternd umgesetzt hat, wie ich mir das hätte vorstellen können. Zum Beispiel, weil er sehr schlechte Technik verwendet hat. Man kann heute mit sehr einfacher Technik 360°-Videos machen, die bei schönem Wetter super sind. Aber bei schlechteren Situationen ist das nicht so einfach, und dann ärgert es mich einfach, dass die Qualität nicht stimmt und dies die ganze Immersion kaputt macht. Wenn du überall Artefakte siehst und es grisselt, dann hilft es dir nichts, dass du bei der Queen im Schlafzimmer bist mit deiner VR-Experience.

Stefan Domke: Zwei andere Sachen fallen mir noch ein: Jemand trifft die Entscheidung, ein Projekt in 360° oder VR umzusetzen und ist auch bereit, dafür Zeit und Geld zu investieren. Er überspringt aber den Punkt, an dem er sich Gedanken machen muss, ob das überhaupt ein Thema für 360° oder VR ist. Das tut mir fast weh. Im Moment sind die finanziellen Ressourcen bei uns im Haus, aber auch überall anders, noch total begrenzt. Und da würde ich mir eigentlich wünschen, dass dieser Punkt erstmal der entscheidende ist, nämlich tief in sich zu gehen und zu überlegen: Ist das ein Thema, was danach schreit in VR oder 360° umgesetzt zu werden? Weil es einen Mehrwert bietet gegenüber einer klassischen Reportage?
Und neben der Bildqualität, die David ansprach, darf das Thema Audio nicht vergessen werden. Wenn ich ein super Bild habe, aber der Sound ist durchschnittlich stereo, geht von der Immersion schon wieder was verloren. In dem Augenblick, wo der Betrachter sich umschaut und die Stimme kommt immer noch aus der identischen Richtung, dann ist die Immersion eben nicht perfekt. Gebe ich mir aber Mühe und produziere den Sound auch in 360°, dann ist das noch mal unterstützend immersiver, weil ich, wenn ich mich von dem Protagonisten wegdrehe, ihn plötzlich auch aus dem Hintergrund höre und nicht mehr frontal wie in der Situation vorher.

Auch wenn der dauerhafte „Rundumblick“ bei einem 360°-Projekt die klassische Arbeit von Kameramann/Kamerafrau überflüssig macht: Die dadurch freiwerdenden Ressourcen sollten dafür genutzt werden, sich auf eine andere Art und Weise Gedanken darüber zu machen, wie das Bild inszeniert wird. Dass ich die Kamera zum Beispiel so positioniere, dass der Betrachter animiert wird, nicht immer in eine Richtung zu gucken.
Die zu erzählende Geschichte entwickelt sich vielleicht im Verlauf von 30 Sekunden oder anderthalb Minuten so, dass du den Nutzer dazu anhältst, dem Hauptprotagonisten zu folgen und dementsprechende Drehungen zu machen. Du musst Geschichten eben anders erzählen als in 2D.

David Ohrndorf: Das ist ein echt schwieriges Thema: Wie viele Freiheitsgrade gibst du dem Nutzer und wie viel gängelst du ihn? Für jemanden, der sich komplett frei bewegen möchte in der Welt, dem musst du alle Möglichkeiten offenlassen. Wir basteln gerade an dem WDR-Projekt „Zeitkapsel“, wo man verschiedene Sachen ausprobieren kann. Wir diskutieren darüber, an welcher Stelle muss man bei einem Nutzer, der vielleicht trotz Hinweis noch nichts ausprobiert hat, Sachen automatisch starten, damit er in den Genuss desjenigen kommt, was er da starten könnte.

 

Würdet ihr denn sagen, ihr seid im Geschichtenerzählen freier bei 360° und VR, oder ist es eher eine stärkere Einschränkung für euch?

 

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Stefan Domke: Ganz klar freier.

David Ohrndorf: Der Werkzeugkasten ist halt größer, muss man einfach sagen. Früher war ich oft als Reporter draußen für WDR.de. Da hast du einen Fotoapparat mitgenommen und hast ganz klassisch Text geschrieben. Das sind die beiden Sachen, mit denen du arbeiten kannst. Natürlich kann ich auch mit der Fotokamera Zeitrafferaufnahmen machen oder ich kann im Text mit sehr vielen O-Tönen arbeiten. Es gibt ein bisschen Spielraum. Aber jetzt arbeiten wir gerade an einer Geschichte, wo wir Bergbau unter Tage vor 100 Jahren erlebbar machen. Du kannst natürlich beschreiben, wie es war, oder auch ein altes Foto dazu stellen. Aber wenn du es den Leuten ermöglichen kannst, selber in die Haut eines Bergmanns zu schlüpfen und wirklich Kohle aus dem Flöz hauen zu müssen mit einer Hacke, die du in der Hand hast, dann ist das eine andere Geschichte. Und du musst die Bewegung nicht einmal machen, sondern du musst häufiger draufhauen, bis die Kohle da rausgeht, und du merkst wirklich, dass es auch ein bisschen anstrengend ist. Dann ist das natürlich schon näher dran an den Nutzern und man kann es besser begreiflich machen, was die Leute damals erlebt haben.

Radioleute sagen ja immer: ein guter Reporter kann alles erklären und Radio ist Kino im Kopf. Ich glaube bloß, wenn du Nutzer vor die Wahl stellen würdest, ob sie von einer Sprengung eines Hochhauses ein Video sehen wollen oder ob sie die Radioreportage von einem tollen Radioreporter hören wollen, wollen die allermeisten das Ding im Video zusammenklappen sehen.

Stefan Domke: Ich finde tatsächlich auch, es hat für beide Seiten einen freiheitsvergrößernden Aspekt. Ich habe so viele verschiedene Mosaiksteinchen, mit denen ich produzieren kann, um nachher ein großes Ganzes zu haben. Umgekehrt gibt es auch immer wieder Diskussionen um Reichweite und Verweildauer. Wir stellen bei Pageflow immer wieder fest, dass kaum jemand sich das Pageflow komplett anschaut. Und das ist übertragbar auf VR-Geschichten – da kann jeder das für sich Wichtige mitnehmen. Das sind dann vielleicht nur 15 oder 20 Prozent des gesamt produzierten Projekts, aber die picken sich genau das raus, was sie haben wollen und werden eben nicht gegängelt und durch Sachen durchgeführt, wo sie gar keinen Bock drauf haben. Das ist Essen à la carte.

 

Was ich interessant finde und was ich bei euch raushöre, ist, dass ihr überhaupt kein Problem damit habt, dem Nutzer diese Freiheit zu geben, sich nicht alles anzusehen, was ihr produziert habt. Oder nicht all das wahrzunehmen. Eigentlich ist ja der Ehrgeiz von jedem, der irgendetwas produziert, dass alle alles wahrnehmen sollen.

 

David Ohrndorf: Aber gute Sprungmarken zu haben und eine gute Auswahl bieten zu können, finde ich auch total gut.

Stefan Domke: Und ich will vor allem, dass der Nutzer am Ende zufrieden ist mit dem, was er mitgenommen hat. Ich glaube, bei VR und 360° wäre ich dann unzufrieden, wenn ich bei der Heatmap-Auswertung eines unserer Projekte feststellen würde, dass 80 bis 90 Prozent der Rezipienten immer nur in eine Richtung geguckt haben. Das wäre das Indiz, dass wir anscheinend das Thema falsch gesetzt haben. Nun gibt es dazu noch keine Medienforschungsdaten, dass ich mich faktenbasiert beruhigen könnte, aber von unseren Dom-Geschichten letztes Jahr war das Feedback durchweg positiv und die Leute haben erkennbar ganz unterschiedliche Sachen in der App ausgewählt. Manche eben eher den musikalischen Teil, manche den handwerklichen Bereich mit den Skulpturenrettern. Das kann man aber auch übertragen auf andere Sachen: Ich liebe Projekte, die episodenhaft angelegt sind. Beim Dom-Projekt zum Beispiel, dass man nicht versucht, alles in ein Gefäß reinzubringen, sondern man hat eine Plattform, auf der der User startet und dann kann man einzelne Kapitel auswählen. Jedes Kapitel steht aber für sich alleine. Was in Zeiten wie diesen auch von Vorteil ist. Sich alles anzugucken bedeutet ja total viel Zeit zu haben – und die hat kaum noch jemand.

David Ohrndorf: Das ist aber auch Freiheit des Internets, weil du nicht wie in einer Fernsehredaktion bis zu einem Sendetermin alles fertig haben musst. Wir haben es aber schon häufig bei Projekten so gemacht, dass wir die Freiheit haben, noch Episoden nachzuliefern oder ein Projekt, das länger läuft, auch noch mal zu verbessern. So kann man ein Projekt immer noch erweitern, so dass die Leute auch wiederkommen können. Man muss die Sachen anders als beim linearen Programm nicht so lange zurückhalten, bis dann der große Tag da ist.

Außerdem profitieren wir gerade sehr davon, dass es so viele Leute gibt, die ihre Erfahrungen aus der Produktion von VR-Sachen auch teilen. Es gibt eine riesige Facebook-Gruppe, in der international alle relevanten Leute teilnehmen. Diese Technik lebt im Moment noch stark davon, dass man immer irgendwas bastelt, zum Beispiel Kameras zusammenbastelt, die eigentlich nicht dafür gedacht sind. Die meisten Produzenten sind auch relativ offen und erzählen, wie sie etwas gemacht haben. Und ich glaube, wenn es diese Möglichkeiten des Internets nicht gäbe, dann würden wir hier nicht sitzen.

Stefan Domke: Dann gäbe es eine Fax-Gruppe.

David Ohrndorf: Oder du würdest dir vielleicht nächstes Jahr das neue Handbuch „Virtual-Reality-Produktion“ kaufen, was dieses Jahr geschrieben wird und den Stand vom letzten Jahr hat. Dass die Leute Wissen in Echtzeit miteinander teilen, ist echt toll.

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Stefan Domke: Eigentlich ist es ganz cool, dass man diese Phase so erlebt, in der es noch keinen technischen und keinen inhaltlichen Standard gibt. Weil man selber viel ausprobieren kann oder sogar mit beeinflussen kann, was irgendwann mal Standard wird. Denn so erleichternd und komfortabel ein Standard ist, so sehr beschneidet er auch die Kreativität. Es ist im Augenblick alles so neu, dass man mal ausprobieren kann und am Ende wird es hoffentlich so sein, dass sich das Beste durchsetzt.

 

Die Fragen stellte Vera Lisakowski.

Über den Autor

Stefan Domke & David Ohrndorf

Stefan Domke ist seit seiner journalistischen Ausbildung an der Deutschen Hörfunkakademie als freier Journalist überwiegend für den WDR tätig. Seit 2010 setzt er beratend oder federführend 360°- und Virtual-Reality-Projekte des WDR um und ist verantwortlich für "WDR Digit" und "Pageflow".

David Ohrndorf volontierte beim WDR und arbeitet seitdem als freier Journalist. In der WDR VR-Taskforce beschäftigt er sich mit der Verbindung von Inhalt und neuer Technik. Neben VR kümmert er sich im WDR um das Storytelling-Tool "Pageflow", um WDR Digit und um Social Media-Projekte.

Für "WDR Digit" waren Domke und Ohrndorf 2013 für einen Grimme Online Award nominiert, 2015 erhielten sie einen für das multimediale Storytelling-Tool "Pageflow", 2017 einen weiteren für das Projekt "Der Kölner Dom in 360° und VR".

Foto: Herby Sachs/WDR


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