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Die Digitalisierung verändert wesentliche Spielregeln unseres Zusammenlebens, Wirtschaftens und politischen Handelns und dringt damit in elementare Bereiche unserer Freiheitsrechte ein. Um diese zu bewahren, müssen wir Grundrechte für das digitale Zeitalter konkretisieren.
Dazu hat die ZEIT-Stiftung einen Vorschlag für eine „Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union“ zur Diskussion vorgelegt, die in einem offenen Prozess weitergedacht wird.
Die Initiative entstand 2015 auf Anregung von Giovanni di Lorenzo, Kurator der Stiftung im Rahmen des Bucerius Labs der ZEIT-Stiftung, das sich mit den Folgen und Gestaltungsmöglichkeiten der Digitalisierung beschäftigt. Gemeinsam mit 27 ExpertInnen aus verschiedenen Bereichen der Zivilgesellschaft – darunter Juli Zeh, Heinz Bude, Johnny Haeusler, Wolfgang Hoffmann-Riem, Jeanette Hofmann und Sascha Lobo – wurde eine digitale Grundrechtecharta erarbeitet, die erstmals im Dezember 2016 in überregionalen Medien, im Netz und einem Ausschuss des Europäischen Parlaments vorgestellt wurde.
Demokratisierung von Möglichkeiten
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Zweifelsohne bieten Digitalisierung und globale Vernetzung der Menschheit bisher ungeahnte Möglichkeiten, sich frei zu entfalten: Arbeitsplätze sind nicht länger an Büroräume gefesselt, Autos brauchen keine Schlüssel und bald keine Fahrer mehr, praktisch jeder Song und jeder Film ist allzeit verfügbar, Informationen und Ideen lassen sich in Echtzeit über Länder- und Kulturgrenzen erfahren und teilen, Proteste und Solidaritätsaktionen mit wenigen Klicks entfachen … Die Liste der neuen Möglichkeiten – sinnvolle ebenso wie triviale – ließe sich endlos fortsetzen. Was wir erleben, ist nicht nur eine Ausweitung, sondern auch eine Demokratisierung von Möglichkeiten.
Doch lässt eine solch mächtige Technologie ebenso ganz neue Möglichkeiten der Eingrenzung, Überwachung, Verfolgung und Kontrolle zu. Wurde Anfang der 2010er der „Arabische Frühling“ noch ad hoc als „Facebookrevolution“ gefeiert, so folgten nur kurze Zeit später erste Nachrichten, wie sich repressive Regime ihrerseits sozialer Medien bedienten, um Dissidenten aufzuspüren oder ihre Bevölkerung mit sozialen Kreditpunkten als gute oder schlechte Bürger zu bewerten. Spätestens seit den Snowden-Enthüllungen ist also klar, was Kritiker wie der verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher schon lange anmahnten: Das Netz hat seine Unschuld verloren und die Gefahr eines „technologischen Totalitarismus“ ist real.
Vor diesem Hintergrund ist die Initiative einer digitalen Grundrechtecharta zu verstehen. Ziel des Entwurfs ist es, auf europäischen Werten fußend einen Rahmen von Grundregeln zu formulieren, der Politik, Wirtschaft und Individuen eine Orientierung bieten soll, wie eine offene, liberale und menschenwürdige Gesellschaft im digitalen Zeitalter garantiert werden kann. Es geht den Initiatoren darum, den rasanten Fortschritt zu humanisieren, damit er sein Potenzial zum Wohl der Gesellschaft entfalten kann und bestehende Freiheiten zu verteidigen, die unserem rechtsstaatlichen Verständnis entsprechen.
Die Freiheit des Einzelnen vor Ausspähung schützen
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Dazu sagt Malte Spitz, einer der Mitinitiatoren der Digital-Charta, Datenschutzexperte und Generalsekretär der „Gesellschaft für Freiheitsrechte“: „In einer Welt, in der Kommunikation zu einem permanenten Datenfluss wird, der Ländergrenzen durchquert und Dutzenden Unternehmen Zugriff gewährt, ist es elementar, die Freiheit jedes Einzelnen vor staatlicher Überwachung und kommerzieller Ausspähung zu schützen. Der Schutz unserer Grundrechte muss gegenüber Staaten wie Unternehmen einklagbar sein, da diese im digitalen Zeitalter zunehmend staatsähnlichen Einfluss auf unser Leben und insbesondere die Wahrnehmung unserer Freiheit haben.“
In 23 Artikeln unterbreitet der Charta-Entwurf Vorschläge zur Autonomie und Freiheit des Einzelnen, zum Einsatz und zur maßvollen Entwicklung künstlicher Intelligenz, zu informationeller Selbstbestimmung und Datensicherheit und zum Umgang mit Hetze und Hass im Netz.
Gleich im zweiten Artikel wird unterstrichen, was niemals zur Disposition gestellt werden darf: „Jeder Mensch hat ein Recht auf freie Information und Kommunikation.“ Artikel 5 verteidigt die Meinungsfreiheit aller Bürger im Netz gegen Zensur. Er macht aber gleichzeitig darauf aufmerksam, dass die Meinungsfreiheit seine Grenzen dort finden muss, wo der Ruf oder die Unversehrtheit anderer Menschen ernsthaft gefährdet werden – etwa durch andauernde Hetze oder Cybermobbing. Weitere Artikel widmen sich der möglichen Einschränkung unserer Freiheit durch (diskriminierende) Auswertung unserer Daten, durch Massenüberwachung, Profiling etc.
Grenzen setzen für Technologien
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Künstliche Intelligenz, Robotik, Vorhersagemethoden, die auf Big Data beruhen, oder Massenüberwachungsprogrammen – es ist keinesfalls technologiefeindlich, anzuerkennen, dass in vielen derzeitigen Entwicklungen, die die Charta thematisiert, das Potenzial von Missbrauch steckt. Eine Kernbotschaft der Charta lautet daher, dass der Mensch klare Grenzen für den Einsatz bestimmter, risikoreicher Technologien setzen sollte. Nur so kann eine aufgeklärte Technologieentwicklung gelingen, für die wir uns in Europa stark machen sollen: „Innovation braucht nicht nur Leidenschaft – sie braucht auch Vernunft“, meint Yvonne Hofstetter, Mitinitiatorin der Digitalcharta.
Die Vorschläge der Charta sind kein fertiger Gesetzestext. Sie ergeben vielmehr ein politisches Manifest, das neben Vorschlägen für künftige Grundrechte auch Staatszielbestimmungen und mögliche Aufträge an den europäischen Gesetzgeber zusammenfasst. Mit der Erstveröffentlichung und Präsentation in Brüssel sollte ein öffentlicher und politischer Prozess angestoßen werden.
Dieser dauert bis heute an. Bereits kurz nach der Veröffentlichung hagelte es insbesondere im Netz Kritik am Vorhaben an sich und an einzelnen Formulierungen. Die Kommentarspalten füllten sich ebenso schnell wie die Liste von Menschen, die die Charta mitunterzeichneten. Beides war im Sinne der Initiatoren: Eine kontroverse öffentliche Diskussion über die Charta und ihre inhaltlichen Aussagen sowie eine breite Unterstützung für das Anliegen selbst zu erwirken. In den folgenden Monaten seit der Veröffentlichung im Dezember 2016 wurde viel diskutiert: in klassischen Medien, im Netz, auf Podiumsdiskussionen und auf der re:publica in Berlin.
Wie frei darf die Meinung sein?
Besonders heftig kritisiert wurde dabei beispielsweise der erwähnte Artikel 5 zur Meinungsfreiheit. Wenn digitale Hetze und Mobbing im Netz „zu verhindern“ seien (so steht es im zweiten Absatz), dann bedeute das doch eine Art Zensur in sozialen Medien und Blogs, gar eine „Schwarze Liste“ von Begriffen oder Redewendungen, die zur sofortigen Löschung führten. Wer bestimmt diese Liste? Wer würde löschen? Der Staat? Internetkonzerne?
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„Die lebhafte Kritik folgt vor allem aus einem Widerspruch, der nicht nur in diesem Artikel sichtbar ist, sondern in der Natur der Sache liegt. Einerseits ist jeder Bürger daran interessiert, die Meinungsfreiheit im Internet bestmöglich zu wahren und zu schützen. Andererseits hat sich gerade in jüngster Zeit die Erkenntnis herausgebildet, dass eben diese Meinungsfreiheit nicht selten missbraucht wird, volksverhetzend, beleidigend, im negativen Sinne mobilisierend,“ schrieb daraufhin die Schriftstellerin und Mitinitiatorin Juli Zeh gegenüber den Kritikern.
Ein zweiter wichtiger Aspekt, den die Charta thematisiert, ist die Machtverschiebung hin zu großen Digitalunternehmen und deren Plattformen. Sie birgt nicht nur Risiken für fairen Wettbewerb, sondern auch für den Schutz von Bürgerrechten. Daher verfolgt die Charta den – sicherlich sehr kontroversen – Ansatz, Grundrechte künftig auch gegenüber privaten Firmen durchzusetzen, wenn sie de facto eine ähnliche gesellschaftliche Funktion ausüben wie staatliche Stellen. Welche Relevanz die Diskussion solcher Ansätze aber hat, zeigt der Fall um den Missbrauch von Facebook-Userdaten, bei dem deutlich wird, dass selbst bestehende Datenschutzgesetze dem Bürger heute keinen effektiven Schutz ihrer Daten und Rechte bieten.
Charta in der Diskussion
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Über ein Jahr lang wurde die Charta so öffentlich diskutiert und die Initiatoren haben den Versuch unternommen, die relevanten Kritikpunkte ebenso wie Ergänzungsvorschläge in eine überarbeitete Fassung des Originaltextes zu überführen. In dem Wissen, dass auch diese Version einen gereiften, aber niemals perfekten – also abschließenden – Text darstellt, wird diese Fassung „2.0“ im Frühjahr 2018 publiziert, um von Politikern, Juristen und interessierten Bürgern weiterentwickelt und diskutiert zu werden. Den Verlauf der Debatte haben einzelne Mitinitiatoren wie Sascha Lobo, Juli Zeh und Bernhard Pörksen im Blog zum Projekt kommentiert.
Letztlich ist es im Sinne aller Nutznießer des Netzes, Bürgerrechte für die digitale Sphäre verbindlich auszuhandeln: denn die Digitalisierung kann Antworten auf viele große Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bieten. Doch gerade um dieses Versprechen einlösen zu können, darf sie ihre gesellschaftliche Akzeptanz nicht verspielen.